Mina von der Fuhr
war kein schleit Dier
Das Moritat
von Otto Hausmann schildert das Leben zu Zeit der
Industrialisierung in Wuppertal
Eck si an
de Foahr ertrocken,/mi vader wor fuselkrank,/mi Moder, die
streckten Socken/ on spolden onger de Hank. An der Fuhr ist
sie erzogen: Dort, wo sich heute am Islandufer der
Sparkassenturm erhebt, lagen vor 150 Jahren die Slums von
Elberfeld. An der Wupper, dicht gedrängt, standen verschachtelt
die schmalen, mehrstöckigen Fachwerkhäuser. In drangvoller Enge
lebten die Menschen, es waren die ärmsten der Stadt. Hier also
wächst die Mina auf: Mina Knallenfalls, der der
Elberfelder Heimatdichter Otto Hausmann ein literarisches Denkmal
setzt. Mina, bittesehr, nicht etwa Minna. Nein, das
Proletariermädchen erhält ihren Vornamen nach Kaiserin
Wilhelmine. Mina, die ihr Leben in 18 Versen selwer
vertault, erzählt selten klagend, meist tapfer
humorvoll, von einem Schicksal und einer Alltagswelt in einer
Zeit, als eine innovative Industrie weltweite Handelskontakte
pflegte, als Bayer groß wurde und Aders den Eisenbahnbau
vorantrieb, als sich das Elberfelder System entwickelte, Adolph
Kolping die Jünglingsvereine gründete und die Familie von der
Heydt eine einzigartige Kunstsammlung aufbaute. Im Elendsviertel
geboren, der Vater ein Säufer, die Mutter strickt und spult wie
so viele Frauen andere arbeiten als Prostituierte
in den engen Wohnungen. Das Wuppertal ist das früheste Zentrum
der Industrialisierung auf dem Kontinent. Die Lage der sich neu
formierenden arbeitenden Klasse hat sich dramatisch
verschlechtert, die alten Hilfskonstruktionen reichen längst
nicht mehr aus. Mehr als 80.000 Einwohner zählen vor 150 Jahren
die beiden großen Städte Barmen und Elberfeld zusammen, 30
Jahre später hat sich diese Zahl mehr als verdoppelt. Da sind in
Köln gerade 145.000 Einwohner, in Düsseldorf nicht mal 100.000
Menschen registriert. In den Wupperstädten drängen sich alle im
Tal. An der Fuhr und in anderen Elendsquartieren sind die
hygenischen Zustände erschreckend. Der Missionsinspektor Fabri
sieht Ende der 40er Jahre in dem Aufbau eines überfüllten
Hauses, der einem schlechten Stalle glich (in einem kleinen Raum)
10 Personen beiderlei Geschlechts und verschiedenen Alters in
einem Bett mit Lumpen bedeckt. Die Behörden registrieren
die katastrophalen Wohnverhältnisse, finden aber keine Abhilfe.
Drastisch schildern auch Friedrich Engels, Moses Heß oder
Friedrich Harkort die Zustände. Und Mina? Vi hatten en
Stall voll Blagen/ dat wor en Gekriesch on Gequetts,/ vi soten em
Dreck bis am Kragen/ met vier Joahr kreeg eck de Krätz./ Twei
Brödersch leeden an Drösen/ on drei hatten opene Been,/ em
wengter schogen vör Freesen/ us rappelnd de Täng molls anneen.
Harte Arbeit, enge Wohnung, eine Kloake die Wupper
vor dem Haus,: dazu unzureichende Ernährung (Dat Freten
wor ok son Dengen!/ Bi us geng et schmal on kott;/ Des
Sonndags, dann wol sek fengen/ märr höachstens en Lus em
Pott.": Das ist Minas Welt. Schon Jahrzehnte vor den
Jahren, die Minas Erzählungen schildern, haben begüterte
Familien in Barmen und Elberfeld Einrichtungen wie den Kornverein
ins Leben gerufen, um den Armen zu Zeiten, in denen sich
Grundnahrungsmittel extrem verteuerten, zumindest Brot oder eine
Suppe zu sichern. Eine solche Krise fällt auch in die Jahre
1846/47. Wirtschaftskrise, Massenelend und explodierende
Lebensmittelpreise führen zu einer Hungersnot. In den fünf
Suppenanstalten Elberfelds etwa werden im ersten Halbjahr 1847
bis zu 4.000 Portionen ausgegeben; fast 40 Prozent der
Bevölkerung müssen zeitweise von den öffentlichen Speisungen
leben. Auf 1.000 Geburten verzeichnen die Behörden 426
Todesfälle von Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren.
Natürlich muss Mina von frühester Kindheit an erst im Haus,
dann in der Fabrik mitarbeiten. Bis Preußen nach zäher
Vorarbeit des Barmer Fabrikanten Johann Schuchard im Jahre 1839
die ersten Kinderschutzgesetze erlässt, ist eine tägliche
Arbeitszeit von bis zu 15 Stunden schon für Achtjährige normal.
Ein Regierungsschulrat schreibt in einem offiziellen Bericht 1837
über zwei Barmer Baumwollspinnereien: Nahrung, Kleidung,
Schlafstätte, alles fehlt diesen armen Kindern, so daß viele
von ihnen vorziehen, in der Fabrik zu schlafen und an den Thüren
zu betteln, als zu Hause mit den Eltern zu essen. Die Speise,
welche den Kindern zu Mittag gebracht wurde, war... ohne Fett und
Geschmack, Kartoffeln, etwas Gemüse in Wasser und eine Schnitte
Brot... Die Spinnerei des Herrn Wittenstein zu Wupperfeld
beschäftigt 140 Personen, darunter 60 zwischen 9 und 14
Jahren. Doch die Mina Knallenfalls lässt sich vom Elend
nicht unterkriegen. Sie bleibt selbstbewusst, frech und
aufmüpfig. Das bekommt auch der Pastor zu spüren. Im
Konfirmandenunterricht kommt es zu einem Missverständnis, weil
der Pfarrer seine armen Kinder nicht versteht. Wer aber bist du?
Fragt der Seelsorger seine Schüler. Ein Mensch,
heißt brav die erwartete Antwort. Ein Mensch Das hat für
Mina von der Fuhr eine ganz andere Bedeutung. Ein Mensch ist ein
schlechtes Frauenzimmer. Und so hält sie dem Pfarrer
empört entgegen: Herr Paschtor, ä watt, geloten!/ Wenn
eck si ok van de Foahr,/ Menscher fengt me op de Stroten,/ on eck
si noch lang keng schleit Dier! Gefeiert wird die
Konfirmation trotzdem, mit dem Pfarrer auf dem von der Familie
gemieteten Speicher. Dass das Fest mit einer handfesten Prügelei
endet, tut der Feier keinen Abbruch. Der fuselkranke
Vater gibt Mina noch einen Ratschlag fürs Leben mit auf den Weg
(Haul meck ok de Been bineen), dann beginnt das
Fabrikleben für die junge Frau. Mina wehrt sich gegen
Annäherungsversuche und lernt schnell den Färber Karl
kennen. Lichtblicke im Leben der jungen Frau. Kirmes, Tanzerei,
und Mina wird schwanger: Jammernd reep eck O
Kranaten!/ Jetzt es aff van meck dä Staat/,Wat kann all
dat Hülen baten,/ seit dä Kal. Vitwei sind
prat. Die Moralbegriffe sind in diesem Milieu sicher anders
als in der bürgerlichen Welt, doch streng sind sie auch. Sitzen
lässt Karl seine Mina nicht. Doch Mina schafft es nicht. Karl
muss zu den Soldaten, Mina kann die Miete nicht zahlen, landet
mit den Kindern auf der Straße, zieht wieder auf den
böwerschten Auler zu den Eltern. Als Karl nachkommt, ist
auch er fuselkrank. Ganz am Ende ihrer
Lebensgeschichte bleibt Mina doch nur die Resignation: Wead
nit alles ronk gedreewen?/ Es nit endlich alle Dreck?/ Bi us
fängt dat aule Lewn/ weder an om aulen Fleck. Mina erlebt
einen schier immerwährenden Kreislauf. An anderer Stelle im
Wuppertal zeigt die Entwicklung steil nach oben. Unternehmer,
Fabrikanten, Erfinder, Kaufleute machen die Städte an der Wupper
zum Zentrum der Frühindustrialisierung. Fast immer wirkt die
puritanische Geisteshaltung mit: Harte Arbeit zum Lob Gottes,
wirtschaftlicher Erfolg bei strenger Lebensführung als Grundlage
eines gottgefälligen Lebens. Elberfeld entwickelte sich mehr und
mehr zu einem Handels- und Bankenplatz markantes Beispiel
ist die Hofaue, die zur Textilstraße Europas wurde. Barmen
baut seine vielfältige Industrie aus. 1843 stehen etwa ein
Drittel aller innerhalb der preußischen Monarchie registrierten
Bandstühle in Barmen. Die Industrie im Wuppertal ist
exportorientiert: Neue Gesellschaften fördern die Ausfuhr etwa
nach Westindien oder Amerika. Als erste im Wuppertal führt die
Firma Wilhelm Böddinghaus & Co den mechanischen Webstuhl
ein. Zu den bedeutendsten Stoffdruckereien zählt die Firma
Schlieper & Baum, die Bankhäuser von der Heydt-Kersten &
Söhne und J.Wichelhaus & Sohn expandieren gewaltig, als
erstes Unternehmen des Textilgroßhandels wird 1829 die Firma
Friedrich Seyd & Söhne gegründet. Seit der Einführung des
mechanischen Webstuhls entwickelte sich schnell eine
Textilmaschinen- und Metallverarbeitungsindustrie. 1863
schließlich gründet Friedrich Bayer mit seinem Freund Friedrich
Weskott die später nach ihm benannte Farbenfabriken. Bereits
1881 wird das Unternehmen eine Aktiengesellschaft mit einem
Kapital von 5,4 Millionen Mark: Bedeutende Zwischenstation auf
dem Weg vom Bleichen des Garns über die Türkischrot-Färberei
und der Pruduktion von Anilin-Farbstoffen bis zur Herstellung von
hochwertigen Kunststoffen und der Entwicklung von Wirkstoffen
für die Pharmazie.
Keiner
weiß wohl seinen Namen, Keiner seines Lebenslauf, und so zieht
er seine Bahnen, wupperab und wupperauf. So reimte einst
ein Wuppertaler Dichter über den Hausierer Peter Held, den man
Husch Husch nannte. Die älteren Wuppertaler werden ihn oft
gesehen haben in seinem uralten Habit, mit verwildertem schwarzen
Bart und der Pappschachtel, aus der er Verkaufsartikel wie etwa
Bleistiftstummel hervorzog. Peter Held war Hausierer, bis zu
seinem Tod 1953. Penner würde man ihn heute nennen,
auch wenn man ein Original aus ihm gemacht hatte. Am 2. August
1886 wurde er geboren. Er soll Sohn einer Pastorenfamilie und
Bruder eines berühmten Hals-Nasen-Ohren-Arztes gewesen sein,
auch hat er angeblich vor 1914 in einem Fachwerkhaus zwischen
Flensburger Straße und Exerzierplatz gelebt. Freunde hatte er
vor allem in Oberbarmen und Heckinghausen. So schloß ihn nicht
selten die Wirtin der Rittershauser Bahnhofgaststätte abends im
Wartesaal ein und weckte ihn morgens mit einer Tasse Kaffee.
Schlafplätze boten ihm auch Steinbrüche bei Laaken, die
Kalköfen in Wülfrath oder der Kuhweg auf dem Rott.
In den dreißiger Jahren zog er dann täglich mit seinem
berühmten Pappkarton durch die Straßen. Auf die Husch
Husch Rufe der Jugendlichen reagierte er mit wilden
Verfolgungsjagden. Am 2. November 1937 verurteilte man ihn wegen
fortgesetzter Bettelei und Landstreicherei auch seine
Angabe, daß er bei einem Tagesumsatz von zwei Mark von seinem
Hausierhandel gelebt habe, nützte ihm nichts zu drei
Wochen Arrest und anschließender Unterbringung in einem
Arbeitshaus in Brauweiler. Im November sprach ihm der Richter den
Schutz eines Originals ab, er sei nichts als ein dreister
Landstreicher. Wahrscheinlich spielte noch eine andere
Begebenheit eine Rolle. Auf dem Elberfelder Neumarkt hatte Husch
Husch lauthals gebrüllt: Wir brauchen keinen Führer
mehr! Beim Verhör auf der Polizeiwache reagierte er
unschuldig: Wir brauchen keinen Führer mehr, erklärte er, denn
wir haben doch schon einen. Husch Husch starb 1953 in der Klinik
Galkhausen
Unter seinem Namen Fritz Poth kannte ihn kaum jemand. Der Sage nach soll er als Fritz von Podscharly sogar adlige Ahnen gehabt haben. Bekannt aber war er als Zuckerfritz seinen Spitznamen hatte er von seiner Vorliebe für Zuckerstückchen und Zigarrenstummel, die er von allen Seiten immer gern annahm. In Gaststätten hausierte er mit seinem eigenen Konterfei und dem seines Freundes August Kallenbach. In seinen früheren Jahren besorgte der Zuckerfritz oder auch Zucker, wie er kurz genannt wurde, Botengänge mit Gegenständen und Briefen aller Art, die er stets gewissenhaft ausführte. Ein Gesangverein aus dem Tal schenkte ihm eines Tages eine Schuffkar, mit der er dann durch die Gegend zog. Auf seinen Botengängen mit dem Schubkarren folgte ihm meist die Elberfelder Straßenjugend mit den Rufen Zuckäär, Zuckeräärfritz! Fritz war immer in Schale: Auf seinem Kopf trug er eine Taffetkappe oder eine alte Militärmütze, um den Hals ein grauseidenes Tuch, das ihm von Elberfelder Fabrikanten und Kaufleuten stets gratis erneuert wurde. Das größte Leid, das dem Zuckerfritz zugefügt wurde, war der Diebstahl seiner Ersparnisse von 1.200 Mark, die er in seiner ärmlichen Wohnung an der Eskesgasse in ein rotes Taschentuch gewickelt unter der Matraze aufbewahrt hatte. Am 9. Mai 1906 starb der Zuckerfritz im städtischen Krankenhaus an einer Lungenentzündung. Sein Standbild steht heute am Übergang von Neumarkt zum Kerstenplatz in Elberfeld. Zwei Jahre später starb auch sein Freund August Kallenbach dä roade Kaldenbach, wie er wegen seiner roten Haarpracht hieß.
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